Hintergrund des Verfahrens
Im schwedischen Ausgangsverfahren stehen sich der Möbelhersteller Galleri Mikael & Thomas Asplund und der Möbelkonzern Mio gegenüber. Asplund sieht seine als „Palais Royal“-Tische vermarkteten Esstische als urheberrechtlich geschützte Werke der angewandten Kunst und wirft Mio vor, mit den „Cord“-Tischen unzulässige Nachahmungen zu vertreiben.
Im deutschen Verfahren geht es um das bekannte modulare USM-Haller-Möbelsystem. Die schweizerische USM U. Schärer Söhne AG wendet sich gegen die deutsche konektra GmbH, die zunächst Ersatzteile und später alle Komponenten für das System – inklusive Aufbau-Service und Abbildungen komplett aufgebauter Möbel – anbietet. USM sieht darin u.a. eine Verletzung ihrer Urheberrechte an dem Möbelsystem als Werk der angewandten Kunst.
Das Berufungsgericht in Stockholm und der Bundesgerichtshof legten dem EuGH hierzu Fragen vor – insbesondere zur Originalität von Werken der angewandten Kunst, zum Verhältnis von Urheber- und Designschutz sowie zu den Kriterien der Urheberrechtsverletzung.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH bestätigt zunächst, dass Gebrauchsgegenstände grundsätzlich kumulativen Schutz durch das Geschmacksmusterrecht und das Urheberrecht genießen können – ohne ein „Regel-/Ausnahme-Verhältnis“ der Schutzarten. Design- und Urheberrecht sind eigenständige Schutzsysteme mit unterschiedlichen Voraussetzungen (Neuheit/Individualität vs. Originalität).
Für die urheberrechtliche Werkqualität von Werken der angewandten Kunst gilt:
- Einheitlicher Originalitätsmaßstab: Es gelten dieselben Anforderungen wie für alle anderen Werkarten; zusätzliche Kriterien („künstlerischer Wert“, Museumspräsenz etc.) sind unionsrechtswidrig.
- Originalität liegt vor, wenn der Gegenstand die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt und dessen freie und kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt – auch bei funktionalen Objekten.
- Technische, ergonomische oder sicherheitsbedingte Zwänge sprechen gegen freie kreative Entscheidungen, soweit sie die Gestaltung determiniert haben.
Bei der Verletzungsprüfung stellt der EuGH klar:
- Entscheidend ist, ob schöpferische Elemente des geschützten Werks erkennbar in den angegriffenen Gegenstand übernommen wurden.
- Gesamteindruck und Gestaltungshöhe des Originalwerks sind für die Verletzungsfrage irrelevant.
- Die bloße Möglichkeit einer unabhängigen Parallelgestaltung genügt nicht, um den urheberrechtlichen Schutz zu versagen.
Begründung des Gerichtshofs: Originalität, Indizien & Grenzen
Der EuGH knüpft an seine Rechtsprechung aus Cofemel und Brompton Bicycle an und präzisiert die Kriterien für Originalität und deren Nachweis:
- Ein Werk ist ein Gegenstand, der die Persönlichkeit des Urhebers durch freie und kreative Entscheidungenwiderspiegelt.
- Nicht relevant (jedenfalls nicht entscheidend) sind:
- rein ästhetische Wirkung („Besonders schön = besonders schutzwürdig“ gilt gerade nicht),
- spätere Anerkennung in Fachkreisen (Designpreise, Museumspräsentationen),
- reine Markt- oder Trendgesichtspunkte.
- Berücksichtigungsfähig, aber nicht zwingend sind u.a.:
- Absichten des Urhebers im Schaffensprozess,
- Inspirationsquellen, existierender Formenschatz,
- Wahrscheinlichkeit unabhängiger ähnlicher Schöpfungen.
All dies darf nur insoweit einfließen, als es sich in der konkreten Gestaltung des Gegenstands niederschlägt – geschützt ist die Ausdrucksform, nicht die Idee.
Für funktionale Objekte betont der EuGH:
- Werke der angewandten Kunst sind regelmäßig von technischen und funktionalen Anforderungen geprägt.
- Dennoch kann (und soll) Urheberrechtsschutz greifen, wenn trotz dieser Zwänge Gestaltungsspielräumeverbleiben und der Urheber darin originelle Entscheidungen getroffen hat.
- Auch einzelne Teile eines Gebrauchsgegenstands (z.B. charakteristische Verbindungskugeln oder Gestellstrukturen) können geschützt sein, sofern sie ihrerseits Originalität aufweisen und zur Gesamtoriginalität beitragen.
Praxisrelevanz: Was Hersteller, Designer & Händler jetzt beachten sollten
Für Rechteinhaber:
- Chance: Möbel, Leuchten, Spiel- und Designobjekte lassen sich leichter auch urheberrechtlich absichern – es gilt kein „Originalität plus“-Standard für angewandte Kunst.
- Hausaufgabe: Originalität ist darzulegen. Es lohnt sich, den kreativen Prozess, Alternativen und bewusste Gestaltungsentscheidungen frühzeitig zu dokumentieren.
Für Hersteller, Händler und „Kompatibilitätsanbieter“:
- Risiko: Der Einwand, ein Produkt sei nur „Trend“ oder stütze sich auf gängigen Formenschatz, trägt allein nicht mehr. Entscheidend ist, ob konkrete schöpferische Elemente wiedererkennbar übernommen wurden.
- Design- und Urheberrecht getrennt denken: Ein nicht eingetragenes/eingetragenes Design, das ausgelaufen ist oder nie bestand, bedeutet nicht automatisch urheberrechtliche Freiheit.
- Compliance-Check: Bei Anlehnung an ikonische Designs (z.B. USM Haller, Designklassiker im Möbel- oder Modebereich) ist eine strengere Prüfung der Schöpfungshöhe und der übernommenen Details angezeigt – auch in Marketingbildern, Systembauteilen und Ersatzteilen.
Auf den Punkt
Werke der angewandten Kunst sind urheberrechtlich nicht zweiter Klasse: Für Gebrauchsgegenstände gilt derselbe Originalitätsmaßstab wie für alle Werke – verletzt ist, wer erkennbare kreative Gestaltungselemente übernimmt, auch wenn der Gesamteindruck abweicht.
Aktenzeichen: C-580/23 – Mio u.a.; C-795/23 – konektra
Quelle: EuGH, Urteil v. 04.12.2025, C-580/23, C-795/23; Pressemitteilung des EuGH Nr. 151/25 v. 04.12.2025 (Europäischer Gerichtshof)